Unser Ziel muss Frieden sein
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Sun Dec 6 17:57:00 GMT 1998
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Der folgende Artikel erscheint in SoZ Nr. 24/98
"Unser Ziel muß Frieden sein !"
Türkei reagiert mit Massenverhaftungen auf Friedensangebot
Seit der Ankunft des Vorsitzenden der Arbeiterpartei
Kurdistans, Abdullah Öcalan, in Rom ist die Frage einer
politischen Lösung des Krieges in Kurdistan auf der
europäischen Tagesordnung. Nach einigen Wochen des
Tauziehens zwischen Türkei, Italien, Deutschland und den
USA, hat zumindest die Bundesregierung mit ihrem Verzicht
auf die Auslieferung Öcalans ein Zeichen gesetzt, das
Anerkennung verdient. Daß in der öffentlichen Diskussion der
Verzicht als Inkonsequenz kritisiert wurde, hat sie sich
jedoch selbst zuzuschreiben. Zu sehr hatten ihre
RepräsentantInnen sogenannte "Sicherheitsbedenken" ins
Zentrum der Begründung gestellt und damit dem alten
Kriminalisierungsklischee von den gewalttätigen KurdInnen
neue Nahrung verschafft. Bis ins Unerträgliche steigerte
sich die Rethorik der Kriminalisierung in den Kommentaren
der Süddeutschen Zeitung und der taz. Dort verhöhnen die
Autoren Joffe und Pickert, die Öcalan wahlweise mit
Diktatoren, Tyrannen oder Kriegsverbrechern wie Pinochet
oder Karadzic gleichsetzen, nicht nur die Opfer in Chile, in
Bosnien, in Kurdisten und in der Türkei, sie gießen auch Öl
ins Feuer der KriegstreiberInnen in Ankara.
Ob wohlgesonnen oder feindselig, die internationale
Diskussion kreist vorwiegend um die Dämonisierung oder
Entzauberung der Person Öcalan. Nur schwer können sich
Stimmen, die den sogenannten Fall Öcalan als Fall Kurdistan
thematisieren möchten Gehör verschaffen. Die Chance, die die
Entscheidung für die Initialisierung einer politischen
Lösung bietet, tritt dabei fast völlig in den Hintergrund.
Unterdessen hat die türkische Regierung im Einklang mit den
staatstragenden Medien die Jagd auf die BefürworterInnen
eines Friedensprozesses eröffnet. Ununterbrochen kombiniert
die Fernsehpropaganda die Bilder weinender schreiender
Angehöriger auf Begräbnissen von Soldaten, mit den Hinweisen
auf die hohe Anzahl von zivilen UnterstützerInnen der PKK.
So werden z.B. die Vizevorsitzenden des
Menschenrechtsvereines IHD, Eren Keskin und Osman Baydemir
systematisch als verlängerter Arm der PKK denunziert, und
laufen ständig Gefahr, ebenfalls Opfer von Übergriffen und
Anschlägen zu werden, ahnlich wie ihr Vorsitzender Akin
Birdal, der im Mai schwer verletzt nur um Haaresbreite ein
Attentat überlebte. Seit sich abzeichnet, daß Öcalan nicht
an die Türkei ausgeliefert wird, erfassen Ausschreitungen
das gesamte Land. Gruppen von über tausend Zivilfaschisten
ziehen vor kurdischen Einrichtungen auf, dringen dort ein,
verprügeln die Anwesenden, zerstören die Einrichtungen und
lassen die Büros zuweilen in Flammen aufgehen.
"Wie auf ein Zeichen stürzten sich Unmengen von Leuten auf
die kleine Gruppe und begannen alle, die sie in die Hände
bekammen, brutal zu verprügeln. Viele wurden blutig
geschlagen und lagen verletzt auf der Straße - erst dann kam
auf einmal Polizei. Doch statt die Angreifer festzunehmen,
nahmen sie die verletzten Kurden fest und führten sie zu
Polizeibussen. Obwohl sich die Verletzten schon in den
Händen der Polizei befanden, wurde die Menge nicht daran
gehindert, weiter auf sie einzuschlagen. In den
Polizeifahrzeugen schlug auch die Polizei auf die
Festgenommenen ein. [...] In sämtlichen neun Stockwerken des
Gebäudes begannen Personalkontrollen. Ich konnte beobachten,
daß sie Menschen unter Schlägen abführten, die nichts mit
der Sache zu tun hatten, nur weil ihr Geburtsort im Ausweis
ein kurdischer ist. Neben mir wurden drei kurdische
Jugendliche festgenommen. [...] Sie führten sie ab und
ketteten sie dann mit Handschellen von außen an die Gitter
des Passageneinganges. So überließen sie sie der weiter
tobenden Menge, die begann, die Jugendlichen unter Parolen
wie 'Die Türkei ist groß, es lebe Atatürk',
zusammenzuschlagen. Sie schrien um Hilfe und baten die
Polizei, sie zu den Polizeibussen zu bringen," heißt es in
einem Augenzeugenbericht.
Während in den Straßen der größeren Städte AnhängerInnen der
faschistischen Grauen Wölfe italienische Fahnen und Waren in
Flammen aufgehen lassen, italienische Einrichtungen belagern
und zerstören, so daß Angestellte der Botschaft das Gebäude
nur noch durch den Hintereingang verlassen können, werden
italienische Geschäfte geschlossen italienischer
Sprachunterricht vom Stundenplan gestrichen und der
Fernsehsender RAI an der Ausstrahlung gehindert. Die Pogrome
werden im Fernsehen wiederum als "Demonstrationen der
nationalen Einheit" gepriesen.
Gleichzeitig brechen die Verhaftungswellen sämtliche Rekorde
seit dem Militärputsch von 1980. Nach Angaben des
Menschenrechtsvereins war Ende November die Zahl der
festgenommenen Mitglieder der noch immer legalen
Demokratischen Partei des Volkes, HADEP, bereits auf 3.064
Personen angewachsen. Fast alle HADEP-Büros, ebenso wie die
Redaktion der prokurdischen Tageszeitung Ülkede Gündem, sind
heute zerstört oder geschlossen. Zwei der Inhaftierten,
Hamit Cakir und Metin Yurtsever, wurden im Zuge ihrer
Verhaftung von der Polizei totgeschlagen.
Haftbefehl erlassen wurde auch gegen den Vorsitzenden der
Partei, Murat Bozlak, der bereits einen großen Teil dieses
Jahres hinter Gittern verbracht hat. Gegen ihn sind
Verfahren anhängig, die ihn bis zu 22 Jahren hinter Gitter
bringen können. Bozlaks erneute Inhaftierung geht auf einen
Aufruf unter dem Titel "Unser Ziel muß Frieden sein!"
zurück, mit dem er Mitte November öffentlich erklärte: "Das
kurdische Problem ist ein Problem aller, die in der Türkei
leben. Es ist das Problem von uns allen. Eine friedliche und
demokratische Lösung dieses Problems ist eine Notwendigkeit.
Wir müssen Anstrengungen unternehmen, jegliches weitere
Leiden zu verhindern, und jene Bedingungen schaffen, die
nötig sind, daß 62 Millionen Menschen gleichberechtigt und
frei zusammenleben können."
Ganz Kurdistan, insbesondere die Provinz Dersim wird von
türkischen Jagdflugzeugen systematisch bombardiert. Allein
dort sind mittlerweile mehr Soldaten stationiert, als der
Provinz EinwohnerInnen verblieben sind. Jeden Tag mehren
sich die Meldungen über Tote und Verletzte. Doch die
Öffentlichkeit beschäftigt der sogenannte "Fall Öcalan" als
handle es sich lediglich um einen Gerichtsthriller.
In dieser Situation haben die Außenminister Italiens und
Deutschlands den Auftrag erhalten, für die Europäische Union
eine Problemlösung herbeizuführen. Sollte es nicht gelingen,
sie dazu zu bringen, die Kriegssituation, die
Menschenrechtsverletzungen und die Verbrechen der türkischen
Machthaber als das eigentliche Problem wahrzunehmen und
dieses einer demokratischen Verhandlungslösung zuzuführen,
wird der "Fall Öcalan" nichts weiter als eine erneute
Bankrotterklärung Europas in Menschenrechtsfragen
charakterisieren.
Knut Rauchfuss
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